Slowmag | Leben und Sterben

Mir geht es gut, ich bin ein privilegierter Mensch. Das Leben tobt in mir und um mich herum! Aber das bedeutet nicht, dass alles immer nur schön ist. Ganz sicher ist es aber authentisch. Ich erlebe viele Menschen um mich herum, ich nehme ihre Schicksale wahr, an vielen bin ich auch direkt beteiligt. Es geht um Gefühle, Emotionen, Gedanken, Zusammenhänge und Geschichten. Geschichten in Worte verpackt, kostbare Zeit. Denn sie lassen uns kurz inne halten, sie geben uns Denkanstöße, auch wenn sie manchmal ein wenig traurig sind. Oder gerade deshalb.

Die Mutter

Sie hat wieder angefangen zu arbeiten, um später die volle Rente zu erhalten. Ihr Mann arbeitet in einem Unternehmen für Tiefkühlkost und es scheint die perfekte Lösung zu sein, das 12jährige Kind mit vermeintlichen vollwertigen Mahlzeiten zu versorgen. Das Geld eines Alleinverdieners reichte nicht mehr. Es hatte zuviele Umzüge und eine große Anzahl an Problemen gegeben. Sie war immer sehr bodenständig und hatte kein Problem mit einfachen Tätigkeiten. Putzfrau mit Herz, tatkräftige Aushilfe im Bekleidungsgeschäft, Küchenhilfe im Pharmakonzern, Hauptsache 11 Jahre am Stück sozialversichert damit die Rente sicher ist. Denn dann beginnt das wahre Leben. Für sie wäre das sicher eines mit ganz viel Italien, mit Stränden an denen man liegt und entspannt, nie das Wasser betritt. Vielleicht wäre es auch der Besuch von Rom gewesen, der Vatikanstadt – natürlich nicht ohne ironische oder zynische Worte für den amtierenden Papst. Auf jeden Fall sehr viel Cappuccino in den beeindruckenden Einkaufsstraßen. Schlösser, Burgen und Parks – Hauptsache das nächste Cafe ist nicht so weit entfernt. Sehr viel Zeit mit der kleinen und vielleicht auch der großen Tochter. Ganz sicher sehr viel Zeit für die Enkel, die dann ja schon ziemlich groß sein würden und nicht zu letzt auch Zeit mit ihm, dem Ehemann. Dem der immer da war. Liebevoll, immer gut und voller Hingabe. Seine Motivation gab ihr die Kraft und Hingabe in staubigen Lagern Kartons voller schwarz gefärberter Textilien aus Bangladesh zu öffnen und zur Ablenkung von den Strapazen die wohlverdiente Pausen-Zigarette zu genießen. Endlich leben. Endlich unabhängig sein. Die Kinder aus dem Haus, der Mann auch schon in Rente. Zeit. Zeit für sich.

Es sollte anders kommen.

Sie starb 2005 im Alter von 58 Jahren, 5 Jahren vor dem Beginn des echten Lebens ohne Rom jemals gesehen zu haben 10 Tage nachdem Papst Johannes Paul zu Grabe getragen wurde. Sie hatte vor mit ihm mal ein ernstes Wörtchen zu reden.

Die Freundin

Sie ist ein Energiebündel, unglaublich jung, nicht einmal 30, ein Küken. Aber eines, das Respekt einflößt. Sie wollte eigentlich Ärztin werden, hat jahrelang mit aller Kraft gegen ein System gekämpft, das ihr den Studienplatz versagt hat. Mit Anwalt und allem drum und dran. Nebenbei arbeitete sie in unterschiedlichen Krankenhäusern und irgendwie war sie auch ohne Studium schon so eine Art Ärztin. Später entschied sie sich für die Psychologie. Mit großem Elan und einem bewundernswerten Ehrgeiz stürzte sie sich in das Lernen. Sie verbrachte mehr Zeit vor einer Schranktür voller Post-its als mit ihren unentschlossenen zu Larifari neigenden Freunden im Restaurant. Wahrscheinlich würde sie sowieso schneller abschließen als alle anderen und dann immer noch so unglaublich jung sein. Dann schwanger, zwei Kinder, zwei Katzen, wieder anfangen zu arbeiten, ziemlich sicher wissenschaftlich, in der Forschung oder so. Mit der zauberhaften Brille auf der hübschen Nase. Nebenbei Model stehen für den Ehemann, den Fotografen. Hoffentlich bekommen wir sie bei all dem Bilderbuch-Leben noch zu sehen, sagten wir oft.

Wieder alles anders!

Die mehrstündige OP im Januar 2014 verlief gut, die Onkologen sind zuversichtlich.

Die Großmutter

Ihr Leben begann mitten im ersten Weltkrieg. Wie das von Gregory Peck und Kirk Douglas. Es war das Jahr in dem der legendäre Rasputin in Russland starb.

Sie weiß noch wie man mit Kutschen verreist, tanzte den Charleston trug als eine der ersten einen Minirock und bewunderte Twiggy. Heute lebt sie allein in ihrer Wohnung, ihr Sohn gleich nebenan. Aber er fühlt sich genervt von der alten Dame. Sie hat eine Enkelin, wahrscheinlich der Grund für ihre niemals endende Fitness, denn sie muss doch sehen, wie die Kleine endlich einen Mann findet, heiratet oder ein Kind bekommt. Viele ihrer Freunde haben sich bereits verabschiedet, manche schon im Wirtschaftswunder, andere während des Waldsterbens und viele als Techno die Hauptstadt Berlin eroberte. Sie ist oft in Berlin – immer noch. Sie kommt mit dem Bus, allein, 200km. Es hat keiner Lust, sie von A nach B zu fahren. Ihrer Enkelin zerreißt das das Herz, aber sie hat keinen Führerschein. Sie, die Oma, schreibt ganz modern eine sms. Natürlich ruft sie danach an um zu fragen, ob die Nachricht angekommen ist. Aber sie schreibt auch noch die guten alten Postkarten und macht lustige Witze, auch fragt sie oft wie lange sie noch bleiben muss. Es ist alles getan. Das was vielleicht ungetan bleibt ist einfach nicht mehr machbar denn der Kopf möchte Sachen die andere Körperteile aus Altersgründen nicht mehr erfüllen können. Und ausserdem wird es auch ein bißchen langweilig nach so vielen Jahren, zäh und einsam. Aber jammern gehört sich nicht.

2016 wird sie 100 Jahre alt! Ziemlich sicher tanzen wir auf ihrer Geburtstagsfeier.

Der Lebenspartner

Fünf Autos, ein paar alte Vespas, Antiquitäten und Artefakte. Ein Schauspieler, eher aus Versehen, aber umso amüsanter. Mit Highspeed über Rennstrecken oder alte Start- und Landebahnen. Einen Horror-Crash im Kreisverkehr überlebt, die Relikte hängen über der Badewanne. Er ist so schwer greifbar, er entgleitet einem, sobald man denkt, man hätte was verstanden. Er ist launisch, aber sind wir das nicht alle? Er war sehr lange ein sehr lauter Kasper. Nicht alle haben mitbekommen, das das vorbei ist. Das macht nichts, er schert sich nicht um die Meinung anderer. Familienverbunden, aber Pläne für eine eigene sind nicht drin. Er liebt auf eine sehr besondere Art, subtil, manchmal merkt man es kaum, manchmal bekommt man eine Matratze, Diskokugel und Champagner im 50er Jahre Ex-Viehtransporter präsentiert. Seine Zeitrechnung ist anders. Das Jahr ist geteilt in 4 Quartale, alle 3 Monate fängt alles wieder von vorne an. 2006, 2009, 2013. Jedes Mal die Frage, wann und ob man etwas darüber erzählt. Und wie. Und dann das ganze Och und Ach und Mann, ey, tut mir leid, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Perlt ab. Denkt man jedenfalls von außen. Wie es innen aussieht, weiß kein Mensch, nicht einmal er selbst.

Aber vielleicht der Universitätsprofessor, der bereits dreimal versucht hat die Ursache für das merkwürdig, liebevolle, schusselige Verhalten in seinem Kopf zu beseitigen. Leider stellt sich mit jedem operativen Eingriff heraus das es eine nicht gänzlich lösbare Aufgabe ist.

Das ist das Leben. Kaum einer kann nicht anknüpfen an diese Geschichten. Sie holen uns ein, falls wir von Zeit zu Zeit versuchen, zu entkommen. Ich laufe nicht mehr weg. Ich schreibe auf. Ich rufe an. Ich höre zu. Ich weine. Aber die meiste Zeit lache ich.

Und all die Beschriebenen übrigens auch.

Orginalartikel auf http://www.slowmag.eu/de/ausgabe/15/zeit.html